Zum ersten Mal ein Platz ohne Angst
Zum ersten Mal ein Platz ohne Angst
Südkurier, 17.09.2018, von Anja Greiner
Als 2011 in Syrien der Bürgerkrieg ausbricht, hat Astrid Sterzel eine ungute Vorahnung. Sie hat geahnt, was auf Deutschland zukommt."1998, nach dem Balkankrieg, waren die Flüchtlingszahlen schon einmal ähnlich hoch." Sie wusste: Der Verein, in dem sie sich damals noch neben ihrem Job in der Industrie ehrenamtlich engagierte, muss sich neu aufstellen. Ihren Job in der Industrie gibt sie dafür irgendwann auf. Und wird Geschäftsführerin des Psychosozialen Zentrums für traumatisierte Flüchtlinge, Refugio. Im Oktober feiert der Verein sein 20-jähriges Bestehen. Dass es so weit kommt, war nicht von Anfang an klar. Als Sterzel sich für die Führung des Vereins entscheidet, hören die, die den Verein 1998 aufgebaut haben, aus unterschiedlichen Gründen auf. Es findet ein Generationenwechsel statt. Bis 2013 steht die Existenz des Vereins mehr als einmal auf der Kippe: zum einen wegen der Finanzierung, zum anderen, weil der Verein schlicht kein geeignetes Fachpersonal finden konnte. „Wer zu uns kommt, ist psychisch krank und hat einen Flüchtlingshintergrund“ sagt Sterzel. Die Betreuung dieser Menschen schüttelt man nicht einfach so aus dem Ärmel.
Wenn die Angst Überhand gewinnt
Inzwischen hat der Verein sechs festangestellte Mitarbeiter (vier davon in Teilzeit), darunter zwei Psychotherapeuten, zwei Sozialpädagogen sowie die Geschäftsführung und jemanden in der Verwaltung. "Die Menschen könnten überall mehr verdienen", sagt Sterzel." Aber sie wissen, hier bekommen sie viel zurück." Dazu kommen rund acht Ehrenamtliche – vom Schüler bis zum Rentner ist alles dabei – die sich beispielsweise während der Therapiesitzungen um die Kinder kümmern, die Menschen zum Arzt begleiten oder ihnen Sprachnachhilfe geben. Rund 20 ehrenamtliche Dolmetscher haben sie ebenfalls in ihrem Helfer-Pool. Sie unterstützen vor allem bei den Therapiesitzungen.
Manfred Kiewald, 71 Jahre alt, Diplom-Psychologe und bei Refugio seit drei Jahren in Teilzeit angestellt, hat seine Therapiesitzung gerade beendet. Bis zu acht Klienten hat er an manchen Tagen, eine Sitzung dauert immer eine Stunde. Manche kommen alle 14 Tage, manche wöchentlich. Suizidgedanken, innere Unruhe, Ängste, massive Schlafstörungen, damit hat er oft zu tun. Die Folgen der Erlebnisse aus dem Heimatland, von der Flucht, oder, sagt Kiewald, was oft vergessen wird: "Manchmal auch aus Deutschland, von dem was sie in den Unterkünften erlebt haben." Hinzu kommen externe Faktoren, wie die ständige Angst vor der Abschiebung, Probleme am Arbeitsplatz, oder auch die Belastung, den Erwartungen derer gerecht zu werden, die zu Hause geblieben sind und oft das Geld für die teure Flucht aufgebracht haben. Was Kiewald am meisten mitnimmt: Wenn die Menschen von Folter und Gewalt erzählen oder davon, wie sie ihre Kinder oder ihre Frau beim Bombardement verloren haben.
400 000 Euro pro Jahr nötig
Die Menschen, die sie betreuen, kommen unter anderem aus Somalia, Gambia, Afghanistan, Syrien, Eritrea, den Irak, Iran oder Sri Lanka. Bis zu 70 neue Klienten nehmen sie pro Jahr auf. Die Warteliste ist lang. Wer einen Platz will, muss mindestens ein halbes Jahr warten. Ausnahmen sind Minderjährige und Schwangere. "Die haben immer Vorrang", sagt Sterzel.
Im Schnitt begleiten sie die Menschen ein bis zwei Jahre. "Erst wenn der Boden sicher ist, können sie den Rest alleine gehen", sagt Sterzel. Die sicherste Bodenhaftung bietet ein Arbeitsplatz, eine Ausbildung."Dann merken sie, sie werden gebraucht", sagt Sterzel. Sie sind ständig im Kontakt mit Unternehmen hier im Kreis. Ganz oben auf der Liste stehen Pflegeeinrichtungen und Gastronomiebetriebe. Sie schulen auch die Mitarbeiter und Führungskräfte in den Unternehmen, worauf man im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen achten muss.
Ein passender Arbeitsplatz ist oft aber nur ein Teil der Lösung. "Die öffentlichen Verkehrsmittel müssten dringend ausgebaut werden", sagt Sterzel. Wer Schichtzeiten einhalten und gegebenenfalls zwischen den Stadtbezirken pendeln muss, weil er sich eine Wohnung in Villingen beispielsweise nicht leisten kann, der hat oft ein Problem. Einer ihrer Klienten mache aus dem Grund gerade extra den Führerschein. Das Geld dafür bringt er selbst irgendwie auf. Sterzel weiß, dass nicht nur Flüchtlinge vor diesem Problem stehen. Ihr wäre es darum am liebsten, man würde die Flüchtlingsdebatte nicht immer nur abgekoppelt von allen anderen gesellschaftlichen Themen führen. Zwischen 350 000 und 400 000 Euro muss sie jedes Jahr zur Finanzierung des Vereins auftreiben. Ein Drittel kommt meist aus Spenden, ein Drittel aus Landesmitteln. Der Rest kommt aus öffentlicher Hand, vom Landkreis beispielsweise, von der Jugendhilfe und der Stadt, die extra die Räume kostenlos zur Verfügung stellt oder von Hilfsorganisationen wie den Vereinten Nationen und Amnesty International. "Von den Krankenkassen", sagt Sterzel, "bekommen wir nichts."
Rund 200 Flüchtlinge betreut der Verein im Jahr. 60 Prozent davon sind Männer, jeder fünfte ist unter 18 Jahre alt. Die Kindertagesstätte, die Schule, Sozialpädagogen oder auch der Hausarzt – ihnen fällt es als erste auf, wenn etwas nicht stimmt im Verhalten der Kinder oder auch der Erwachsenen.
"Wer traumatisiert ist, versucht mit seinem Verhalten alles zu vermeiden, was noch einmal daran erinnern könnte", sagt Sterzel. Die Folge: die Menschen sind oft in einem Zustand ständiger Anspannung und Aufmerksamkeit. Da gibt es die Kinder, die sich unter dem Tisch verkriechen, wenn sie einen Hubschrauber hören oder die Erwachsenen, die die Straßenseite wechseln, wenn ihnen ein kleiner Lieferwagen entgegenkommt, weil sie einmal mehrere Tage durch die Wüste gekarrt wurden, eingezwängt in einen Transporter. Refugio ist im Spanischen der Begriff für eine Schutzhütte. Ein Platz ohne Angst. Viele Flüchtlinge finden einen solchen Platz hier in Villingen nun zum ersten Mal.