Seit zwei Jahrzehnten ein Zufluchts-Ort
Jhana van Stipelen und Ute Schwer.
Seit zwei Jahrzehnten ein Zufluchts-Ort
Südkurier, 17.09.2018, von Anja Greiner
Fast ein ganzes Jahrzehnt herrschte in Folge des Zerfalls der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien Kriege in Kroatien, Bosnien- Herzegowina und dem Kosovo Krieg. Die Ereignisse in den 1990er-Jahren auf dem Balkan gelten in der jüngsten europäischen Geschichte als die brutalsten nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine der Folgen waren Millionen von Flüchtlingen.Viele von ihnen kamen damals auch nach Deutschland – und auch in die Region. Und: Etliche von ihnen hatten schreckliche Erlebnisse hinter sich. Sie litten im Exil unter den Folgen des Krieges und der Flucht. Dass ihnen geholfen werden musste – das stand für die Initiatoren von Refugio außer Frage. Der Arzt Ernst-Ludwig Iskenius, der jahrelang Hilfstransporte nach Bosnien-Herzegowina organisiert hatte und die Situation auf dem Balkan aus eigener Anschauung kannte, gründete zusammen mit Sozialpädagogin Monika von Mirbach das psychosoziale Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge. Refugio VS agierte ab dato als gemeinnütziger Verein und Nichtregierungsorganisation – und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Die Arbeit geht nicht aus
In diesem Jahr nun wird das 20-jährige Bestehen der Einrichtung am Villinger Schwedendamm gefeiert – auch wenn es den Akteuren eigentlich am liebsten wäre, wenn ihre Arbeit an dieser Stelle eines Tages überflüssig würde. Aber danach sieht es momentan nicht aus. Im Gegenteil. In den letzten zwei Jahrzehnten hat Refugio VS circa 4000 geflüchtete Menschen betreut, therapiert und psychosozial begleitet. Und mit dem neuen Zuzug von Geflüchteten in den letzten Jahren stieg der Bedarf wieder sehr stark an. Ab 2015 kamen viele Flüchtlinge in Folge des Kriegs in Syrien, aber auch in Folge vieler anderer Konflikte und problematischer Lebensverhältnisse in mehreren Teilen der Welt nach Europa und speziell nach Deutschland. „Das war natürlich schon eine Zäsur“, sagt Geschäftsführerin Dr. Astrid Sterzel mit Blick auf den verstärkten Zuzug. Sie selbst hatte lange Jahre ehrenamtlich im Refugio-Verein mitgearbeitet, bevor sie 2013 die hauptamtliche Leitung übernahm. Ernst-Ludwig Iskenius und Monika von Mirbach waren 2012 in den Ruhestand gegangen.
Ziel: Ein sicherer Ort sein
Zum Refugio-Team gehören heute Astrid Sterzel, außerdem noch eine Sozialpädagogin und eine in dem Bereich mitarbeitende weitere Kraft, zwei Psychotherapeuten, mehrere Honorarkräfte, eine Bürokraft und zahlreiche Ehrenamtliche. Ihnen allen ist es wichtig, dass Refugio seinem Namen buchstäblich gerecht wird: Ein Ort der Zuflucht will man sein, ein sicherer Ort, an dem die Klienten geschützt sind und sich den Ärzten und Sozialarbeitern anvertrauen können.
Die Klienten. Wer ist das eigentlich? Astrid Sterzel sagt: „Bei uns ist eine Klientel, die krank ist, das muss man einfach so sagen. Das Regelsystem kann sie nicht nehmen.“ Und: „Wer krank ist, hat das Recht auf Schutz“, so steht es in der europäischen Flüchtlingskonvention. „Wir haben viele Menschen, die psychisch krank sind, die bleiben werden“ – ihnen müsse demnach alleine schon im Interesse der Gesellschaft geholfen werden. Manfred Kiewald, der seit Anfang 2016 als psychologischer Psychotherapeut im Team dabei ist, berichtet, dass verschiedenen Erhebungen zufolge rund 40 Prozent der geflüchteten Menschen traumatisiert seien. Bei Kindern und Jugendlichen könne man sogar von bis zu 80 Prozent sprechen. Gerade ihre Zahl habe sich seit 2015 verdoppelt, zuletzt waren 42 von ihnen bei Refugio VS in Behandlung. Auch die Zahl der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die in die Region gekommen sind, hat deutlich zugenommen. Astrid Sterzel, Manfred Kiewald und Sozialarbeiterin Veronika Herz berichten, dass Traumata bei Groß und Klein durch Krieg oder Verfolgung im Heimatland und entsprechende Gewalterfahrungen ausgelöst werden. In einigen Ländern wie Sri Lanka litten Menschen unter massiver körperlicher Folter. Menschenhandel werde immer mehr zum Thema, vor allem in afrikanischen Ländern wie Nigeria. „Auch die massive sexuelle Gewalt hat zugenommen“, sagt Astrid Sterzel. Viele Menschen erlitten traumatische Erlebnisse auf der Flucht. Der Gesundheitszustand der Refugio-Klienten ist schlecht, bei einigen der Patienten sind die Probleme schon chronisch. Auch Selbstmordgedanken spielen eine Rolle: „Suizidalität haben wir in allen Altersgruppen“, so Astrid Sterzel. Die Symptome der Traumatisierten sind von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, aber oft dramatisch: Sie reichen von Aussetzern über Aufmerksamkeitsstörungen bis zu großer innerer Unruhe, Angst oder Panik, Müdigkeit, Flashbacks, Vermeidungsverhalten, sozialem und emotionalem Rückzug und körperlichen Beschwerden. Auch Aggressionen und Gewaltausbrüche kommen vor. Die Psychotherapie versucht, die Menschen aus dieser Situation herauszuhelfen, sie seelisch zu stabilisieren, ihnen ein Sicherheitsgefühl zu geben und konkret ihre Autonomie zu fördern.
Unsicherheit im Exil
Oft sind die Traumata aber nur ein Teil des Problems der Menschen, mit denen es Manfred Kiewald und seine Kollegen zu tun haben. Vielfach kommt nämlich noch die Unsicherheit im Exil dazu, wie der Fachmann berichtet. Das reiche bis hin zum ungeklärten Status des jeweiligen Asylverfahrens, oft flankiert von fraglichem Zugang zu Arbeit oder Bildung. Bei 80 Prozent der Betreuten läuft das Asylverfahren noch, nur beim Rest ist es abgeschlossen. „Die Menschen sind ständig angstbesetzt“, fasst Astrid Sterzel zusammen. Und Psychologe Kiewald ergänzt: „Der Alltag ist oft schwierig.“ Da seien Fragen der Unterbringung oder auch latenter Rassismus, dem die Flüchtlinge oft begegneten. Dabei registriert das Refugio-Team bei der überwiegenden Mehrheit der Klienten „den starken Wunsch, sich zu integrieren. Die Menschen wollen gesehen werden. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als angenommen zu werden.“ Deshalb erfordere diese enge Verzahnung der Probleme eine hohe Komplexität und Multiprofessionalität von Hilfen. Verschiedene Professionen arbeiten deswegen bei Refugio VS unter einem Dach. Faktisch ist das Zentrum die einzige Stelle im weiten Umkreis, die „das ganze Paket“ hat, wie sie hier sagen. Dazu gehören unter anderem Erziehungshilfen, Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Bedarf die Bildung von sozialen Netzwerken, Kreativ und Gruppenangebote wie musikalische Begegnungen, ein Frauenkreis oder die Erläuterung der Kultur, der Werte und der Regeln in der neuen Heimat. Auch Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe oder Förder- und Sprachunterricht werden ermöglicht, wenn es nötig ist.
Bis zu 220 Klienten pro Jahr
Die Menschen verschiedener Nationalität kommen aus der näheren und weiteren Region zu Refugio: gut zur Hälfte aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis, der Rest aus ganz Südbaden. Zwischen 180 und 220 Personen werden pro Jahr betreut. Ihre Zahl wächst kontinuierlich, längst gibt es eine Warteliste, denn die Ressourcen von Refugio sind begrenzt. Die meisten Klienten sind zwischen einem und zwei Jahren in Behandlung, bei anderen dauert es drei bis fünf Jahre. Ziel ist es, die Menschen dauerhaft in die Selbstständigkeit zu entlassen. Wichtig ist es den Verantwortlichen, zu betonen, dass die Klienten hier nicht „betüdelt“ werden. „Wir sind kein Hätschelverein“, sagt Astrid Sterzel. Wer sich nicht an die Regeln hält, nicht regelmäßig in die Therapiesitzungen kommt oder in irgendeiner Weise zu betrügen versucht, fliegt raus. Diese Fälle kämen allerdings sehr selten vor, denn „der Wunsch, gesund zu werden, ist bei den Allermeisten riesengroß“. In einem Erstgespräch wird abgeklärt, ob und wenn ja, welche psychische Erkrankung vorliegt.
Schwierige Finanzierung
Wie viele Nichtregierungsorganisationen hat auch der Villinger Verein mit einem existenziell bedeutenden Faktor zu kämpfen: dem lieben Geld. Die Finanzierung basiert auf Projekt- und Spendengeldern und ist somit fragil. Satte mindestens 25 Prozent des Refugio-Finanzbedarfs werden über Spenden gedeckt. Von den gesetzlichen Krankenkassen bekommt der Verein hingegen nichts. Die Kassen kommen für dolmetschergestützte Therapien nicht auf. Und in den allermeisten Refugio-Fällen geht es ohne Dolmetscher eben einfach nicht. Mal abgesehen davon, dass es erstens ohnehin angesichts eines leer gefegten Fachkräftemarkts sehr schwierig ist, Psychotherapeuten zu finden und zweitens Dolmetscher rar sind, die seltene Sprachen beherrschen. Hätte Refugio nicht aufgrund der jahrelangen Kontaktpflege da einen eigenen Pool und ein entsprechendes Netzwerk aufgebaut, wäre das Ganze schlicht unmöglich.
Zeitlich begrenzte Förderung
Zurück zur Finanzierung: Nur fünf Prozent des Etats werden über gesetzliche Erstattungen abgedeckt. Vom Bund wird etwas im Rahmen eines Akutprogramms beigetragen, aber eine dauerhafte Sache ist auch das nicht. Zeitlich begrenzte Projektförderung kommt ansonsten in der Hauptsache vom Land, vom UNO-Flüchtlingshilfe-Verein, von Amnesty International und der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Der Schwarzwald-Baar-Kreis erbringt seit Jahren eine Freiwilligkeitsleistung und die Stadt Villingen-Schwenningen erlässt dem Verein die Kaltmiete. Das alles hilft, ermöglicht aber keine strukturelle Finanzierung. Dass diese in absehbarer Zeit einmal möglich wird und die Arbeit in ihrer Professionalität entsprechend anerkannt wird, das hoffen sie bei Refugio VS. Die Akzeptanz der Arbeit in der Bevölkerung ist unterdessen ungebrochen groß. Im jüngsten Jahresbericht fassen es die Verantwortlichen so zusammen: Die Unterstützung der Spender und Ehrenamtlichen „zeigt das Gesicht einer hilfsbereiten Gesellschaft für alle Menschen in Not“. Seit zwei Jahrzehnten wird die Arbeit sehr stark von einer regionalen Spendenkultur getragen. Auch Politiker der verschiedenen demokratischen Parteien unterstützen Refugio VS.
Bedroht und beschimpft
Gleichzeitig heißt es auch im Jahresbericht: „Drohbriefe an Refugio VS können uns nicht einschüchtern.“ Denn ja: Es gibt auch solche Reaktionen, anonyme Drohungen, Beschimpfungen, Sachbeschädigungen, Fahrräder und Autos von Mitarbeitern wurden demoliert – die Polizei ist längst eingeschaltet. Davon aber lassen sie sich bei Refugio nicht beirren, weder die ehrenamtlichen, noch die hauptamtlichen Mitarbeiter. Letztere könnten anderswo weit mehr verdienen. Und trotzdem bleiben sie bei Refugio, ausgestattet mit viel Idealismus und der Überzeugung, dass ihre Arbeit hier gebraucht wird – heute mindestens genauso nötig wie vor 20 Jahren.
Info: Spendenkonto und Internetseite
Wer Refugio VS mit einer Spende helfen will, kann das an folgendes Spendenkonto tun: Refugio Villingen-Schwenningen e. V., IBAN: DE23 6945 0065 0000 0961 16, Sparkasse Schwarzwald-Baar. Im Internet ist der Verein unter www.refugio-vs.de zu finden.
Veranstaltung am 4. Mai zum Thema „Seelisch verletzte Kinder und
Jugendliche: Wie sensibel ist das Umfeld? Welche Hilfe tut Not?“
Anlässlich des 20-jährigen Bestehens veranstaltet Refugio VS am Freitag, 4. Mai, von 15 bis 18 Uhr, im Kaisersaal der Seniorenresidenz Alpenland am Villinger Kaiserring ein Forum. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Refugio VS erbringt seit zwei Jahrzehnten Psychotherapie und psychosoziale Betreuung für seelisch erkrankte Menschen mit Fluchtschicksal. 20 Prozent der Patienten sind Kinder und Jugendliche – ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Ziel der Veranstaltung ist es, durch Erfahrungsberichte aus Schule, Kindergarten und Sozialbetreuung und psychotherapeutischer Praxis Sensibilitäten zu erhöhen, Missstände aufzuzeigen, adäquate Hilfe zu benennen und Akteure besser zu vernetzen. Referenten sind Erzieherinnen und Pädagogen aus Villingen-Schwenningen, die Refugio-Sozialpädagogin Veronika Herz, Psychiaterin Dr. Frauke Schmidt-Lange und Psychotherapeut Manfred Kiewald. Eine abschließende Podiumsdiskussion stellt sich der Frage: „Welche Hilfe tut Not?“